ESPIELLO – Ethnographic Documentary International Festival 2012
Bericht von Irina Linke (WAS FOTOGRAPHIERT WERDEN MUSS)
Das Festival findet in einem kleinen Ort in den spanischen Pyrenäen statt, in dem Dorf Boltaña in der Provinz Huesca. Die Provinz gehört zur Autonomen Gemeinschaft Aragon. Wie der Name schon sagt, ist es ein Festival des ethnografischen Dokumentarfilms, das Filme jeder Länge zeigt. Es ist das einzige Festival des ethnographischen Films in Spanien und richtet einen internationalen Wettbewerb aus, bei dem mehrere Preise vergeben werden. Wie oft bei Festivals in der Provinz, zeichnet sich auch dieses durch eine außergewöhnliche Gastfreundschaft des Organisationsteams und der Bevölkerung aus. Boltaña ist eine Gemeinde von nur 700 Bewohner/innen, und das Festival wird vom Landkreis Sobrarbe ausgerichtet, der 19 Gemeinden umfasst und in denen insgesamt nur knapp 7000 Menschen wohnen.
Vor gut zehn Jahren überlegten die Kulturverantwortlichen des Landkreises, eine Veranstaltung zu schaffen, die Film und Ethnographie verbindet. Diese Kombination hatte folgende Motivation: Zum einen gab es im Landkreis eine große Nachfrage nach Film und audiovisuellen Medien und eine Gruppe von Leuten, die sich damit auskannten; zum anderen sind die Gegend und ihre Bewohner über Jahrzehnte Objekte ethnographischer Betrachtung gewesen. Daher wollten sie einerseits die Bilder, die von ihnen gemacht wurden, zurückholen, und andererseits selbst den Blick in die Ferne schweifen lassen.
Das Festival ist also ein Publikumsfestival, das den Bewohnern der kleinen Berggemeinden etwas bieten will, und ihnen Filme über lokale, spanische oder internationale Themen zeigen will. Seit der Gründung des Festivals vor 10 Jahren hat die Gemeinde Boltaña eine Kongresshalle (palacio de congresos) erbaut, mit riesiger Leinwand und sehr guter Projektionstechnik über Beamer. Alle Filme, die nicht im spanischen Original oder mit spanischen Untertiteln vorlagen, wurden vom Festival untertitelt. Die Qualität der Projektion meines Filmes fand ich überwältigend gut und im Nachhinein bedaure ich, nicht hinter die Kulissen der technischen Abläufe geschaut zu haben.
Die Ausrichtung auf die eigene Bevölkerung lässt sich an vielen Merkmalen erkennen, zum Beispiel an der zeitlichen Struktur des Festivals. Es fand von Freitag den 20. bis Samstag den 28. April statt, mit Schwerpunkt auf die beiden Wochenenden. Unter der Woche fand jeweils nur eine Veranstaltung des Wettbewerbs statt, und zwar abends um 22:00 Uhr. So war Zeit für Ausflüge und Spaziergänge in der traumhaften und erholsamen Landschaft. Viele Filme waren nicht Englisch untertitelt und einige internationale Gäste, die kein Spanisch verstanden, fühlten sich etwas verloren, da auch die Anmoderationen nur sehr spärlich ins Englische übersetzt wurden. Eine lokale Besonderheit erscheint mir, dass die Primetime immer einem ausführlichen dreigängigen Abendessen vorbehalten war – und nicht etwa einer Filmveranstaltung. Diese begann dann erst wieder um 22 Uhr oder um 22:30.
Ich konnte erst am Dienstag anreisen, daher war mein Film auf meine Bitte hin vom ersten Wochenende auf den Mittwoch verlegt worden. Das Festival ist nicht so leicht zu erreichen, der nächste internationale Flughafen ist Barcelona, von dort sind es noch circa 290 Kilometer bis nach Boltaña, das sind dreieinhalb bis vier Autostunden. Aus Zeitgründen hielt ich es für praktisch, mir am Flughafen ein Auto zu mieten anstatt den Bus zu nehmen, der in Kombination mit meinem Flug sehr ungünstig lag. Als ich ankam, waren eher wenige auswärtige Gäste da. Viele waren am Wochenende dagewesen und schon wieder abgereist. Was ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht wusste: Auch die Jury hatte schon am ersten Wochenende getagt und die Entscheidungen waren bereits gefallen. Für das zweite Wochenende reisten dann wieder Gäste an.
Neben dem Wettbewerbsprogramm gab es weitere Sektionen, die jeweils nur wenige (1-3) Filme umfassten: eine Sektion für einen Meister des Dokumentarfilms (Miguel Vidal Cantos), eine Sektion für Kinder und Jugendliche, eine Sektion zur Ethnografie der Pyrenäen und eine Sektion zu Ethnografie und Spielfilm. Außerdem wurde Carlos Saura eine Ehrenauszeichnung verliehen, die er nach der Projektion zweier seiner Filme und einer ausführliche Podiumsdiskussion entgegennahm.
Jeder Film wurde nur ein Mal gezeigt, das Spektrum der Filme im Wettbewerb war sehr weit und die Qualität sehr unterschiedlich. Viele Filme waren für das Fernsehen produziert worden und das merkte man ihnen auch an. Es war schade, dass es nach der Projektion der Filme keine Diskussion gab. Das halte ich gerade dann für unabdingbar, wenn Filme unter dem Gesichtspunkt des "Ethnographischen" vorgeführt werden, denn dann steht besonders die Frage im Vordergrund, wie sich der/die Filmemacher/in zu den Gefilmten in Beziehung setzt, welche Haltung er ihnen gegenüber einnimmt, und ob die eingesetzten Mittel und die formale Umsetzung angemessen sind. Das Bedürfnis, nach den Filmen zu diskutieren, hatten alle Filmemacher/innen, mit denen ich gesprochen habe, und viele von uns schlugen der Festivalleiterin vor, dies in zukünftigen Jahren zu ändern.
Ich konnte den Organisator/innen und der Festivalleiterin persönlich das Informationsmaterial von German Films übergeben. Die Flyer konnte ich auf einem dafür vorgesehenen Tisch in der Eingangshalle der Kongresshalle auslegen. Eine der DVDs mit Kurzfilmen für Kinder bekam Ángel Gonzalvo Vallespí. Seine medienpädagogische Veranstaltung für Schulklassen des Landkreises an einem Vormittag hat mich außerordentlich begeistert. Anhand des Spielfilmes VIVIR PARA SEMPRE von Gustavo Ron erörterte er mit drei Schulklassen das Thema "emotionale Intelligenz". Er erreichte eine rege Redebeteiligung der Jugendlichen und konnte sie sehr effektvoll für die Mechanismen der Entstehung von Vorurteilen und Rassismen sensibilisieren. Die Veranstaltung gehört zu einer Serie von Veranstaltungen, die er unter dem Namen "Un día de cine del IES Pirámide" in der Provinz Huesca durchführt.
Am Samstag Abend fand ein fulminantes Finale statt, mit Sketchen und mit Musik, die die Preisverleihung begleiteten. Für mich völlig überraschend gewann mein Film einen Preis, und zwar einen von zwei Spezialpeisen, die die Jury zusätzlich vergab. Die Überraschung war so groß, weil keiner der ausgeschriebenen Preise auf meinen Film zu passen schien, und weil mein kurzer und fast schon minimalistischer Film neben meist längeren Filmen zu sehen gewesen war. Der Preis lautete ACCÉSIT ESPECIAL POR SU PERSPECTIVA CONTEMPORÁNEA DE LA INVESTIGACIÓN ETNOGRÁFICA Y POR LA SIGNIFICACIÓN CULTURAL DE LA IMAGEN - Spezialpreis der Jury für eine neue Perspektive ethnographischer Erforschung der kulturellen Bedeutung des Bildes. Der Preis ist mit 400 Euro dotiert. Der Abend klang in der Bar aus, ein lokales Trio spielte mit volkstümlichen Gassenhauern zum Tanz auf und alle tanzten ausgelassen bis in die Morgenstunden.
Während Spanien insgesamt unter einer schweren Finanzkrise leidet und viele Menschen ihre Arbeit verloren haben, hat es diese Region nicht so schlimm erwischt. Sie hatte sich weder am Tourismus- noch am Bauboom beteiligt und das Tal auch nicht für den Skisport entwickelt. Anstatt dessen hat sie einen sanften Tourismus gefördert und das zahlt sich jetzt aus. So kann das Festival auch als Teil dieser behutsamen Entwicklung gesehen werden, das die Attraktivität der Sobrarbe steigern und sie sowohl in Spanien als auch international bekannt machen soll. Das Festival ist einen Besuch auf jeden Fall wert!